„Perspektivenwechsel“

Erst kürzlich habe ich eine meiner Buntstiftzeichnungen aus dem Jahr 1985 gefunden – es war der erste kreative Ausdruck, an den ich mich erinnere, der sich mit Wahrnehmungsverschiebungen und Prägungen meiner Herkunftsfamilie auseinandersetzte. Damals habe ich die Zeichnung „Im Rahmen der Vergangenheit“ genannt. Wenn ich sie heute betrachte, dann sehe ich eine Frau, die sich auf verschiedenen Ebenen innerhalb unterschiedlicher Perspektiven bewegt; dies ist der „Perspektivenwechsel“, den ich heute darin sehen kann.

Rückblickend kann ich sagen, dass es nicht immer ausreicht Vergangenes zu erkennen und es innerhalb eines therapeutischen Settings zu benennen und zu integrieren. Die unzähligen Ebenen persönlicher Wandlung und indviduellen Wachstums bewegen sich spiralenförmig, immer wiederkehrend, nie endend. Die Perspektive dessen, was wir in Bezug auf frühe Prägungen unserer Herkunftsfamilie erkennen können, ändert sich parallel mit unserer Fähigkeit uns selbst zu reflektieren.

Das System der Herkunftsfamilie ist der erste Container, innerhalb dessen wir unsere Identität und Persönlichkeit entwickeln. Er ist quasi das erste Fenster, durch das wir in die Welt blicken, der Filter, der unsere Wahrnehmung und unser Erleben bestimmend prägt. Nun mag es sein, dass wir diesen Container sprengen, ihn in Frage stellen, uns ihm entgegen stellen oder ihn verlassen. Heißt dies nun, dass wir von den frühen uns innewohnenden Prägungen auch tatsächlich nicht mehr bestimmt werden? Wie finden wir mehr darüber heraus? Kreative Ansätze in der individuellen Begleitung erlauben uns die gewohnte Matrix im Denken, Fühlen und dem körperlichen Spüren zu verlassen. Genauso wie eine Bildgestaltung oder eine Collage Symbole und Ausdruckunserer inneren Erfahrungswelt reflektiert, kann uns der Körper in seinen Bewegungsmustern und seiner Körpersprache unser inneres Erleben spiegeln. Chronische Anspannung und Krankheiten des Körpers sind weitere Wege, die uns offenbaren können, welche innere Geschichte sich im Bereich des Physischen manifestiert hat. Über welche kreative oder alternative Methode wir die Brücke nach Innen überqueren, bestimmen individuelle Bedürfnisse und Möglichkeiten, allem voran jedoch die Bereitschaft unsere Aufmerksamkeit nach innen zu richten.

So hat der Schriftsteller James Baldwin (1924-1987) bereits dahingehend folgenden Gedanken geäußert: „Nicht alles, was konfrontiert wird, kann geändert werden, aber nichts kann verändert werden, bis es konfrontiert wird.“ Dies kann sich auf gesellschaftliche, politische oder ökologische Systeme genau so wie im übertragenen Sinn auf die inneren Verhaltens- und Erlebensmuster jedes Menschen beziehen.

Mehr als 30 Jahre später betrachte ich nun diese Buntstiftzeichnung und weiß, dass es immer noch mehr Perspektiven zu entdecken gilt. Die Möglichkeiten zur Reflexion sind unendlich und das Innehalten ist unendlich wichtig hierbei. Das Zusammenwirken von kreativem Fluss und kognitivem Reflektieren ist mein favorisierter Ansatz in den Begegnungen mit der eigenen Seele. Der Ruf der Seele wird lauter und deutlich wahrnehmbar, wenn wir uns dem Lauschen nach innen zuwenden. Zuweilen gibt es Töne und innere Bilder, die wir uns gar nicht erwartet hätten 🙂 Durch Stille können wir wieder Bewegung finden, durch Leere kann Fülle in unser Leben zurückkehren.

In den Lebensfluss zu kommen mit oder trotz dem Vergangenen, mit dem Gegenwärtigen und dem möglichen Zukünftigen ist eine Herausforderung, die – vorausgesetzt wir wollen diese Herausforderung annehmen – authentisches Erleben und ein Stück Wahrhaftigkeit ermöglichen kann. Was kann es besseres geben?