Wenn der Fluss mich trägt
Altern ist kein plötzlicher Bruch, sondern ein Fluss, der uns weiterträgt – manchmal sanft, manchmal reißend. Zwischen dem Loslassen alter Ufer und dem Vertrauen in neue Strömungen liegt eine stille (manchmal gefühlt unangenehme) Einweihung.
Altern – dieses geheimnisvolle Wort, das uns manchmal erschreckt und unweigerlich ruft. Es ist kein Stillstand, kein Verblassen, sondern eine Verwandlung, die mitten im Leben geschieht. Während wir lernen, weniger zu kämpfen und mehr zu vertrauen, öffnet sich für manche von uns ein anderer Raum – weicher, weiter, wahrer.
Dieser Text ist eine Einladung, den Fluss des Lebens nicht länger kontrollieren zu wollen, sondern sich ihm anzuvertrauen. Eine Aufforderung, die ich für mich selbst täglich manchmal laut und manchmal im Flüsterton wiederhole. Ein Stück Seelenarbeit, ein bisschen Magie – und vielleicht ein Wiedererkennen darin, dass das Altern nicht das Ende ist, sondern eine andere Art zu leuchten.
Vom Altern, vom Lassen und vom Werden
Wie unschwer zu erkennen, beschäftige ich mich in letzter Zeit intensiver mit dem Thema des Alterns.
Vielleicht, weil die Zeit sich leiser anfühlt. Vielleicht, weil der Spiegel ehrlicher geworden ist.
Oder vielleicht, weil der innere Ruf, still zu werden, lauter klingt als das Getöse der Welt.
Gegen die Strömung
Wie lange ist das schon her?
Diese wilde, trotzig-leuchtende Zeit, in der ich gegen die Strömung schwamm –
unermüdlich, kämpferisch, mit dem festen Glauben,
dass „ewig jung“ doch irgendwie möglich sein müsse.
Ich bin geschwommen, als ob es um mein Leben ginge.
Und vielleicht war es das ja auch – das Leben, das sich damals noch beweisen wollte.
Ich wollte unbesiegbar sein, leuchtend, schnell.
Ein Funken aus Sternenstaub, der sich weigert zu verglühen.
Das Geheimnis des Loslassens
Doch irgendwann kamen Worte angeschwommen, leise, aber unaufhaltsam:
„Altern ist nicht das Ende des Schwimmens. Es ist das Sichtragenlassen.“
Seitdem übe ich.
Ich schwimme nicht mehr gegen die Zeit, -ich versuche es zumindest.
Ich lasse mich tragen. Ich lasse mich wandeln.
Weil mir gar nichts anderes übrig bleibt.
Also erlaube ich mir, Fluss zu sein – nicht nur die Schwimmerin.
Das klingt poetisch, ja – aber in Wahrheit ist es auch unbequem.
Denn das Sichtragenlassen bedeutet, Vertrauen zu haben in das,
was größer ist als mein Wille, stärker als mein Ehrgeiz, älter als mein Körper.
Es bedeutet, mit der eigenen Endlichkeit Freundschaft zu schließen –
und das ist keine leichte Konversation.
Die Kunst der Durchlässigkeit
Ich erfahre: Ich bin nicht weniger geworden.
Ich bin durchlässiger.
Das Leben geht durch mich hindurch, wie Wasser durch ein Sieb aus Licht.
Die Formen ändern sich, die Substanz bleibt.
Manchmal denke ich an Inanna, die sumerische Göttin,
die hinabstieg in die Unterwelt, um all ihre Kleider und Kronen abzugeben –
bis sie nackt und verletzlich vor sich selbst stand.
Vielleicht ist das Altern genau das:
ein heiliger Abstieg, ein Entkleiden von Rollen, Sicherheiten und Masken.
Nicht, um zu verlieren – sondern um mehr wahr zu werden.
Atem des Himmels
Und doch – manchmal, wenn der Wind durch mein Haar fährt,
fühle ich, wie der ganze Himmel in mir atmet.
Als sei alles, was ich losgelassen habe, zurückgekehrt
in einer weicheren, größeren Form.
Ich merke: Das Altern ist kein Verschwinden.
Es ist ein Rückfließen.
In den Rhythmus, der uns alle trägt –
dorthin, wo das Ich nicht mehr kämpft,
sondern Teil des großen Flusses wird.
Wer bin ich, wenn die Rollen fallen?
Wenn sich die Parameter der Identifikation auflösen – das, was du glaubtest zu sein, deine Rollen, deine Aufgaben, dein Spiegelbild in den Augen anderer – dann beginnt zuerst ein Zittern. Ein feines, irritierendes Beben im innersten Kern des Ichs.
Es ist, als würde der Boden, auf dem du dein Leben gebaut hast, plötzlich weich werden.
Nicht, weil er verschwindet, sondern weil er sich in Wasser oder eine Art Treibsand verwandelt.
Zuerst kommt oft Angst. Wer bin ich, wenn ich nicht mehr bin, was ich war? Die Therapeutin, die Mutter, die Kämpferin, die Weise, die Liebende – sie alle beginnen, sich voneinander zu lösen wie Häute, die du lange getragen hast.
Es ist ein Entkleiden, nicht vor den Augen anderer, sondern vor dem eigenen Spiegel der Seele.

Die stille Revolution der Durchlässigkeit
Gesellschaftlich mag es sich anfühlen, als würdest du aus dem Raster gleiten.
Die alten Antworten auf „Und was machst du so?“ lösen sich in einem milden Lächeln auf, -manchmal.
Du merkst, dass Zugehörigkeit nicht länger durch Rollen entsteht, sondern durch Resonanz.
Dass Identität nicht festgeschrieben ist, sondern atmet.
In diesem Zustand geschieht etwas leise Revolutionäres:
Du beginnst, dich selbst nicht mehr zu „haben“, sondern zu sein.
Nicht als Konstrukt, sondern als lebendige Bewegung.
Die Ich-Form wird durchlässig, und durch diese Poren strömt das Leben selbst – unzensiert, ungeschminkt, unverhandelbar.
Es ist kein Zustand für die Eitelkeit, aber einer für die Seele.
Und du?
Wie gehst du mit deinem Altern um?
Welche Mythen begleiten dich dabei – welche Bilder, welche Stimmen?
Magst du deine Gedanken teilen?
Ich würde mich freuen.
Denn vielleicht ist das Altern, wenn wir es gemeinsam betrachten,
kein Verfall – sondern eine Einweihung – in das Geheimnis eines noch nicht sichtbaren Werdens.
