Wenn die Welt ringsum auseinanderstrebt und Stimmen einander übertönen, braucht es innere Antennen, um zu erspüren, wohin unsere Lebenskraft fließen darf. Anstatt uns zerstreuen zu lassen, können wir wählen, sie in Bahnen zu lenken, die uns nähren, verbinden und in Bewegung halten.
Wenn die Tage kürzer werden, öffnet sich ein Raum, der uns nach innen ruft. Es ist eine Zeit, in der Samen in der Dunkelheit reifen, bevor sie sichtbar werden. Aus dieser Tiefe entspringen Gestalten, Klänge, Bewegungen – das Rohmaterial unserer Kreativität.
Schaffen heißt, sich auf zweierlei einzulassen: auf das Wagnis, ohne Landkarte in unbekanntes Gelände aufzubrechen, und auf die Geduld, dem Unsichtbaren Schutz und Dauer zu schenken.
Schöpferisches Arbeiten bedeutet, zwischen Nähe und Abstand zu pendeln – sich einzulassen, loszulassen, wiederzukehren. Erst im Wechselspiel entsteht Klarheit, und mit ihr der Moment, in dem der nächste Schritt sich zeigt.
So tut sich dann die eine Frage auf: Was ist das eine, das mich wirklich ruft – und welcher erste kleine Handgriff öffnet heute die Tür dorthin?
Wer diesen Weg geht, lernt auf das unsichtbare Sehen der Nacht zu vertrauen, den Körper als Wegweiser zu achten und in den Stimmen anderer das Echo der eigenen Suche zu erkennen.
In diesem Feld aus Fragen und manchmal angespannten Erleben entwickeln sich in mir Bilder, die dann wie eine Befreiung heraussprudeln und oft erst im Nachgang des Betrachtens Sinn machen. So gibt es ein paar neue Digitale Collagen und eine davon hat eine Geschichte, die sie erzählen möchte:
Zu der Stunde, in der die Sterne wie offene und wachsame Augen über der Erde stehen, begegnet die unbekannte Frau dem Stier aus blauem Licht. Ihre Haare fließen im Wind und ihre Füße kennen die Essenz der Erde.
Der Stier, -man mag es ihm nicht ansehen, ist uralt. Er ist das Symbol der Erde, der Fruchtbarkeit, der wilden Naturkraft und des ungezähmten Instinkts. In Mythen trägt er immer schon so manch eine Göttin über Länder und Meere. Er ist das Tier des Mondes, der Sexualität und der schöpferischen Potenz.
Er ist der Stier aus blauem Licht, dessen Hörner die Monde halten und dessen Mähne das Feuer der Welt birgt.
Seine tiefblaue Farbe spiegelt das Heilige, das Transzendente, das in der Materie schlummert.
Die unbekannte Frau mit dem weißen Haar trägt keine Schuhe, denn sie ist auf dem Weg zwischen den Welten. Fische schwimmen neben ihr in der Luft, Vögel singen im Element Wasser, und ein Schmetterling führt sie, als sei er ein Bote der Verwandlung.
Sie erklimmt den Rücken des Stieres aus azurblauer Substanz. Jeder seiner Schritte klingt wie der Herzschlag der Erde. Seine Hörner sind nicht aus Horn, sondern aus Mondlicht geschnitzt. In seiner Mähne wohnt das Feuer der Elemente. Er trägt Spiralen und Siegel auf seiner Haut – alte Schriftzeichen, die weder gelesen noch vergessen werden können, nur gespürt: das Alphabet des Unbewussten.
Die Frau ohne Namen mit Haaren wie fließende Zeit, verschmilzt mit dem Stier. Sie ist das Bewusstsein, die Seele und das Lenkende, die es wagt, auf der Materie zu reiten.
Die Seele bewegt sich mit der Materie, das Leichte auf dem Schweren, das Unendliche auf dem Endlichen. So schreitet der Stier mit der Frau auf dem Rücken über den Hügel, nicht Geist oder Fleisch, Himmel oder Erde, sondern immer beides, zugleich.
Auf dem höchsten Hügel bleibt der Stier schließlich stehen und spricht ohne Worte in den Wind der Zeit: „Ich bin die Kraft, die trägt. Du bist der Atem, der lenkt. Ohne dich bleibe ich blind, ohne mich wirst du bodenlos. Gemeinsam sind wir Gleichgewicht.
