Der unausgesprochene “Vertrag” zwischen Kind und Eltern: Die Dynamik der Selbstverleugnung und ihre Auswirkungen auf das autonome Nervensystem
In der frühen Kindheit entsteht oft eine unsichtbare, aber tiefgreifende Dynamik zwischen dem Kind und seinen Eltern. Diese unbewusste “Übereinkunft” dient dazu, das familiäre System in Balance zu halten und stellt für das Kind eine Überlebensstrategie dar. In dieser Phase sind Kinder vollständig auf die Fürsorge und den Schutz ihrer Eltern angewiesen. Sie brauchen Sicherheit, Geborgenheit und emotionale Nähe, um sich gesund entwickeln zu können. Im Gegenzug entwickeln Kinder oft ein tiefes, unbewusstes Bedürfnis, das familiäre Gleichgewicht zu wahren. Dies kann zu einem unausgesprochenen “Vertrag” führen: Die Eltern gewährleisten Sicherheit, und das Kind tut alles, um dieses Gleichgewicht zu erhalten – selbst wenn es dafür eigene Bedürfnisse unterdrücken muss.
Die Dynamik des familiären “Vertrags”
Ein Kind ist emotional und physisch abhängig von der Familie und möchte instinktiv vermeiden, diese Bindung zu gefährden. Wenn das Kind jedoch bemerkt, dass seine authentischen emotionalen Reaktionen oder Bedürfnisse zu Spannungen oder Konflikten in der Familie führen könnten, lernt es, diese zu unterdrücken. Es übernimmt die Verantwortung für die Homöostase des familiären Systems – also für das Aufrechterhalten von Harmonie und Stabilität. Dieses Muster dient dazu, das familiäre Gleichgewicht zu schützen, ist jedoch oft mit der Verleugnung der eigenen Bedürfnisse und Identität verbunden.
Das bedeutet, das Kind lernt, seine eigenen Wünsche, Gefühle und Bedürfnisse zurückzustellen, um Konflikte zu vermeiden oder den elterlichen Erwartungen gerecht zu werden. Das familiäre System bleibt stabil, doch das Kind bezahlt einen hohen Preis: Es verliert den Kontakt zu seinem authentischen Selbst, da es sich fortwährend anpasst und seine Emotionen kontrolliert, um die Balance innerhalb der Familie zu bewahren.
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Die Rolle des autonomen Nervensystems in dieser Dynamik
Das autonome Nervensystem spielt bei dieser Dynamik eine zentrale Rolle. Das autonome Nervensystem steuert unbewusste körperliche Prozesse wie Herzschlag, Atmung und Verdauung. Es besteht aus zwei Hauptzweigen: dem Sympathikus und dem Parasympathikus. Der Sympathikus ist verantwortlich für die „Kampf- oder Fluchtreaktion“, während der Parasympathikus für Entspannung und Regeneration sorgt.
Wenn ein Kind ständig das Gefühl hat, dass seine Bedürfnisse und Emotionen eine Bedrohung für das familiäre Gleichgewicht darstellen, wird sein Nervensystem chronisch aktiviert. Anstatt in einem entspannten und regenerativen Zustand zu sein, in dem der Parasympathikus dominiert, wird der Sympathikus ständig aktiviert. Dies führt zu einer erhöhten Wachsamkeit und Anspannung – ein Zustand, der typischerweise mit Stress und Angst einhergeht.
Das Kind lebt in einem konstanten Spannungsfeld: Es möchte Sicherheit, spürt aber, dass die Erfüllung seiner eigenen Bedürfnisse diese Sicherheit gefährden könnte. Dies erzeugt eine ständige Aktivierung des Stresssystems. Langfristig kann dies dazu führen, dass das Kind in einem chronischen Zustand von Anspannung und Übererregung bleibt, was nicht nur die emotionale, sondern auch die körperliche Gesundheit beeinträchtigt.
Langfristige Auswirkungen auf Körper und Psyche
Wenn das autonome Nervensystem dauerhaft in einem Stressmodus verharrt, hat dies weitreichende Konsequenzen. Das Kind, das später zum Erwachsenen heranwächst, lebt möglicherweise immer noch in einem Zustand, in dem es schwerfällt, zu entspannen, sich sicher zu fühlen oder authentische emotionale Bindungen einzugehen. Die unterdrückten Bedürfnisse und Emotionen führen oft zu einem tiefen inneren Konflikt, der sich in Angstzuständen, Depressionen, psychosomatischen Beschwerden oder chronischen Stresssymptomen äußern kann.
Darüber hinaus wirkt sich diese andauernde Anspannung negativ auf das Immunsystem, das Verdauungssystem und das allgemeine Wohlbefinden aus. Menschen, die in ihrer Kindheit gelernt haben, ihre eigenen Bedürfnisse zu verleugnen, neigen als Erwachsene dazu, sich selbst und ihre Bedürfnisse zu übergehen, was häufig zu Erschöpfung und Burnout führt.
Wege zur Bewusstwerdung und Heilung
Der erste Schritt zur Heilung besteht darin, sich dieser unbewussten Dynamik bewusst zu werden. Das Erkennen, dass man als Kind einen unausgesprochenen „Vertrag“ eingegangen ist, der das familiäre System stabilisiert hat, ist essenziell. Es geht darum zu verstehen, dass diese Strategien in der Kindheit sinnvoll waren, um in einem bestimmten Umfeld zu überleben, aber im Erwachsenenalter nicht mehr dienlich sind.
Ein Schlüssel zur Transformation liegt in der Regulation des autonomen Nervensystems. Methoden wie achtsames Atmen, Meditation, Yoga oder somatische Therapieansätze können dabei helfen, das Nervensystem zu beruhigen und aus dem chronischen Stressmodus auszusteigen. Indem das Nervensystem lernt, sich zu entspannen, wird es dem Menschen ermöglicht, aus alten Überlebensmustern herauszutreten und seine eigenen Bedürfnisse wieder wahrzunehmen.
Die Rolle der Archetypen
Ein weiterer wichtiger Schritt in diesem Prozess ist die Arbeit mit Archetypen, wie sie unter anderem von Carl Gustav Jung, Joseph Campbell, Maureen Murdock, Clarissa Pinkola Estes beschrieben wurden. Archetypen sind universelle, im kollektiven Unbewussten verankerte Symbole, die verschiedene Rollen und Energien im menschlichen Leben verkörpern. Durch die Auseinandersetzung mit bestimmten Archetypen kann ein Mensch erkennen, welche Rollen er innerhalb der Familie übernommen hat.
Zum Beispiel könnte jemand, der gelernt hat, sich selbst zugunsten der familiären Homöostase zu opfern, stark mit dem Archetyp des „Helfers“ oder „Märtyrers“ identifiziert sein. Diese Archetypen stehen für das Bedürfnis, sich selbst aufzugeben, um anderen zu dienen oder das Gleichgewicht zu bewahren. Die bewusste Arbeit mit diesen Archetypen kann helfen, diese Muster zu erkennen und zu verändern. Gleichzeitig kann man neue Archetypen wie den „Krieger“ oder die „Königin“ integrieren, die für Selbstbehauptung, innere Stärke und das Einstehen für die eigenen Bedürfnisse stehen.
Fazit
Die unbewusste Übereinkunft, die in der frühen Kindheit zwischen dem Kind und seinen Eltern entsteht, hat tiefgreifende Auswirkungen auf die emotionale und körperliche Gesundheit. Das Bedürfnis, die familiäre Homöostase aufrechtzuerhalten, führt oft dazu, dass das Kind seine eigenen Bedürfnisse verleugnet und in einem chronischen Zustand von Stress und Anspannung lebt. Um aus diesem Muster auszubrechen, ist es wichtig, das Nervensystem zu beruhigen und sich der unbewussten Dynamik bewusst zu werden. Die Arbeit mit Archetypen und die Regulation des autonomen Nervensystems können dabei helfen, alte Überlebensmuster zu transformieren und ein authentisches, selbstbestimmtes Leben zu führen.