Vorausgesetzt wir stimmen der Annahme zu, dass ein Mensch mit mehreren unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen durchs Leben geht, wäre es dann nicht höchst interessant, diese verschiedenen Anteile näher zu betrachten? Was würde uns dazu bewegen dies ernsthaft zu tun? Braucht es hierfür unter Umständen Lebenskrisen, Schaffenskrisen, Beziehungskrisen oder sonstwie gearteten Krisen oder Herausforderungen, die uns dazu bewegen würden, ein besseres Verständnis für unsere Erfahrungen und Gefühle zu suchen? Was könnte uns dabei helfen, generell besser zu navigieren oder – im übertragenen Sinn – unser im Wellengang befindliches Boot auf Kurs zu halten?

In ihrem Buch “die Wolfsfrau” beschreibt Clarissa Pinkola Estés die Geschichte von eben jener La Loba (Wolfsfrau), die in den Steilhängen des Tarahumara-Reservats im Norden Mexicos lebt. Da sie sich mit den Wölfen zutiefst verbunden fühlt, sucht sie dort nach den Gebeinen toter Wölfe. Hat sie alle Gebeine eines Wolfssketletts sorgsam auf dem Boden geordnet und zusammengesetzt, beginnt sie mit ihrer Magie dem Wolf wieder Leben einzuhauchen. Langsam bildet sich Fleisch, Sehnen und Fell. Der volle Gesang und der Zauber der Wolfsfrau erweckt den Wolf schließlich wieder zum Leben. Noch während ihres Gesangs springt er auf und läuft durch den Canyon in seine neu gewonnen Freiheit. Wenn man den Lauf des Wolfes genau verfolgt, kann man am Horizont die Gestalt einer Frau erkennen, in die sich der Wolf verwandelt hat.

© Angela Fischlein

Als Parabel im übertragenen Sinn können wir die “Knöchelchen” unserer Lebensgeschichte sammeln, die “Wirbeln” unserer Herkunft zusammensetzen und die “Gelenke” unserer Beziehungen beleuchten, bis wir unseren Lebensweg mit all seinen Erfahrungen vor uns haben.Wie ein Puzzle lässt sich unser Leben zusammensetzen und mit jedem versteckten oder verborgenen Teilchen mehr, das wir entdecken, die wahren Farben unserer Geschichte erkennen. Doch mit welcher Magie hauchen wir unserer inneren Gestalt Leben ein? In welchen Menschen können wir uns verwandeln, wenn wir unsere inneren Anteile ganzheitlich und als Gesamtes betrachten? Welche Rituale können unsere Seele zu ihrem wahren Sein erwecken?

In meiner Erfahrungswelt war es oft der Zauber des Unbekannten, der mich aus gewohntem Erleben, Denk- und Glaubensmustern hinaus bewegen ließ und es mir ermöglichte mit verborgene Teilen meiner Identität in Kontakt zu treten. Da gabs mitunter auch schwere Zeiten, in denen es mich ganz ordentlich gebeutelt hat. Meist waren es kreative Ansätze in Form von Bewegung oder Kunst, die mich ein Stück weit in eine unbekannte Freiheit jenseits der mir bekannten Parameter lockten. Dies ermöglichte mir häufig, mich selbst neu oder vollkommen anders zu erfahren und zu erleben. Worin sich die meisten Techniken und Methoden jedoch sehr ähnelten, war die Tatsache, dass Puzzleteile der bewussten und unbewussten Selbstwahrnehmung gefunden und/oder neu zusammengesetzt wurden. Der Prozess des Sich-Findens kann mitunter sehr emotional und bewegend sein aber auch nachhaltige und tiefgreifende Veränderungen im Leben und Erleben ermöglichen.

Ob unsere Selbsterkenntnis nun über die tanztherapeutische Methode der Authentischen Bewegung, Tarumarbeit, der Bildgestaltung einer SoulCollage® oder dem Kennenlernen der uns stetig begleitenden archetypischen Kräfte ist, es ist letztendlich immer ein Finden und Zusammenfügen der einzelnen Anteile unserer Identität, die sich erst in der von uns gefühlten Ganzheit entfalten und weiter entwickeln kann.

Fakt ist, wir sind viele. Wir sind die Gütigen, die Zornigen, die mit den Ahnen, die mit den Eltern und Geschwistern, wir sind die Mütter, die Väter, die Trotzigen, die Rebellischen, die Anlehnungsbedürftigen, die Wertschätzenden, die Verurteilenden, die Selbstständigen, die ewigen Kinder, die Verantwortungsvollen. “Ja und?”, mag man sich nun fragen. Warum sollte man sich damit überhaupt auseinandersetzen?

Aus eigener Erfahrung möchte ich behaupten, dass persönliches Wachstum in seiner ganzen Fülle nur dann möglich ist, wenn wir uns selbst mit größtmöglicher Tiefe reflektieren. Es braucht nicht immer ein Burnout, ein Trauma oder eine Lebenskrise um damit zu beginnen, wobei für manche genau diese Auslöser der Beginn einer Reise zu sich selbst sein können. Es gibt viele chronische und akute Krisen in dieser Welt. Auch diese haben Auswirkungen auf uns, indem sie uns unter Umständen ängstigen, hilflos, ohnmächtig, aggressiv und mutlos machen. Wohin betten wir all die Persönlichkeitsanteile, die Träger dieser Gefühle sind, abends wenn wir zu Bett gehen? Findet das Unreflektierte seinen Ausdruck in unserem Körper oder finden wir es doch eher in einer Auseinandersetzung mit dem Partner, dem Vorgesetzten, dem eigenen Kind? Unsere Reaktionsflächen sind multidimensional und manchmal können wir den Wald vor lauter Bäume gar nicht mehr erkennen. Wer kennt es nicht, – dieses Gefühl manchmal vollkommen überflutet und überwältigt zu sein? Wie können wir trotz Widrigkeiten des Lebens Veränderungen ermöglichen um das Beste in uns zu entfalten?

Die wichtigste Lebensstrategie für mich ist dem Unbekannten Raum zu geben. Das Unbekannte im Kontext von Gefühlen, Erlebens- und Denkmustern muss atmen können, es muss gesehen, beleuchtet und angenommen werden. Gibt es hier nicht einen besseren (Aus-)Weg als den nach innen? Dort, wo wir uns selbst begegnen können um ein Stück Wahrheit über uns selbst zu erfahren; dort, wo wir das unendlich Herausfordernde auseinanderklamösern und beleuchten können, genau dort werden wir Teil eines Wandlungsprozesses, der uns die Türe zu unserem lebendigen und authentischen Sein öffnet. Wer bin ich, wenn nicht viele? Alle Persönlichkeitsanteile, die unserer Identität ausmachen, wollen gesehen, gelebt, verstanden und geliebt werden. Bekommt jeder Anteil in uns die von ihm benötigte Aufmerksamkeit und Zuwendung, kann das persönliche Wachstum mit Leben gefüllt werden. Ähnlich der Magie von La Loba, die durch ihren Zauber den Atem des Wolfes wieder erweckt, kann es uns auf dem Weg nach Innen gelingen, verborgene und uns noch nicht bekannte Anteile unseres Selbsts sichtbar werden zu lassen. Wer weiß, wie unser Wandel aussehen und was noch alles in uns stecken könnte?

Wie viele bist Du? Welche unterschiedlichen Persönlichkeitsanteile trägst Du in Dir? Hast Du Dich mit dieser Frage schon einmal auseinandergesetzt?